Nach einem halben Jahr Abwärtstrend an der Börse sind viele Anleger weichgekocht und zum Spielball ihrer Emotionen geworden. Erfolg bei der Geldanlage wird so immer unwahrscheinlicher. Wie Anleger einen kühlen Kopf bewahren und das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen, erklärt Vermögensverwalter Stephan Albrech.
An der Börse gibt es eine Reihe nützlicher Weisheiten. Dazu zählen Aussagen wie „Kaufen, wenn die Kanonen donnern“ oder „Realisieren Sie Gewinne, wenn alle anderen euphorisch sind“. Doch immer, wenn es so weit ist, will der größte Teil der Anleger nichts mehr davon wissen. Dann setzen die meisten auf die teuerste Parole seit Erfindung der Börse: „Dieses Mal ist alles anders.“ Diesen falschen Glaubenssatz bekommt man fast überall bestätigt – sei es in den Nachrichten, in der Bank oder im Gespräch mit Freunden.
Angst und Gier und „Dieses Mal ist alles anders“
Weil man Angst hat, greift man nicht zu, obwohl es jetzt Aktien zu Schnäppchen-Preisen gibt. Und weil man gierig wird und weitere Kursanstiege nicht verpassen möchte, verkauft man nicht. „Dieses Mal ist alles anders“ ist psychologisch betrachtet eine Rationalisierung, damit sich Anleger von ihren Emotionen leiten lassen können. Es ist eben leichter, der emotionalisierten Herde zu folgen, als selbstbestimmt zu denken und zu handeln.
Beim Finanz-Gedächtnis zählen drei Faktoren
Es liegt auf der Hand, dass Anleger so auf Dauer keinen Erfolg haben werden, im Gegenteil. Hier kommt nun das ins Spiel, was sich als Finanz-Gedächtnis bezeichnen lässt. Wie der Name schon sagt, werden die aktuellen Ereignisse in einen größeren Kontext gestellt, um Abstand zu gewinnen und sie einzuordnen. Damit wir uns auf unser Finanz-Gedächtnis verlassen können, betrachten wir den bisherigen Kursverlauf, das Sentiment und volkswirtschaftliche Prognosen und vergleichen sie mit früheren ähnlichen Situationen.
1. Chart-Check: Bislang nicht mehr als eine Korrektur
Der bisherige Kursverlauf (Chart) als Fußspur des Geldes ist eine unumstrittene Tatsache. Hier können wir erkennen, wie sich Indizes wie der Dax oder der amerikanische S&P 500 entwickelt haben. Beim S&P 500 ist es sonnenklar: Nach der Corona-Krise ist der Index nach oben geschossen und hat neue Allzeithochs erreicht. In den vergangenen sechs Monaten hat das Barometer rund 45 Prozent dieses Anstiegs abgegeben. Damit befindet sich der Index aber weiterhin nur in einer Korrektur dieses großen Anstiegs und nicht in einem neuen Bärenmarkt, wie manche Kommentatoren suggerieren. Der übergeordnete Bullenmarkt ist weiterhin intakt.
2. Wirtschafts-Check: Von hier aus könnte es besser werden
Nicht selten werden volkswirtschaftliche Prognosen zitiert, um einen Blick auf die Zukunft der Börse zu erhaschen. Wer nun glaubt, je besser diese Zahlen sind, desto besser seien stets die Aussicht für Aktien, der irrt. Gerade wenn die wirtschaftlichen Aussichten mau waren und etwa der Ifo-Geschäftsklima-Index tief stand, konnten sich Dax-Anleger in den nächsten sechs und zwölf Monaten über starke Zugewinne freuen. Das ist im Grunde verständlich, denn nur wenn das Geschäft derzeit nicht so gut läuft, sind positive Überraschungen in der Zukunft möglich, die den Aktienmarkt befeuern können. Indikatoren wie das Ifo-Geschäftsklima befinden sich aktuell auf einem Niveau, von dem aus es in der Vergangenheit zu teils substanziellen Zugewinnen am Aktienmarkt kam.
3. Sentiment-Check: Hoher Pessimisten-Anteil ist gut für steigende Kurse
In den USA ermittelt die American Association of Individual Investors (AAII) jede Woche den Anteil von Pessimisten und Optimisten unter den privaten Aktienanlegern. Aktuell erwarten fast 60 Prozent der Befragten weiterhin fallende Kurse. Das sind doppelt so viele wie im historischen Durchschnitt! Lediglich knapp 20 Prozent gehen von steigenden Kursen aus; der Rest zeigt sich neutral. Der entscheidende Punkt: Nach solch extrem hohen Pessimisten-Anteilen brachte der S&P 500 in den nächsten sechs und zwölf Monaten überdurchschnittlich hohe Renditen. Das pessimistische Sentiment spricht für spürbar höhere Kurse in den kommenden sechs und zwölf Monaten.
Fazit:
Mit einem guten Finanz-Gedächtnis können Anleger aktuelle Ereignisse in einen langfristigen Kontext einordnen. Das hilft ihnen, in schwierigen Zeiten den Kompass bei der Geldanlage nicht zu verlieren.
Über den Autor: Stephan Albrech ist Vorstand der Albrech & Cie. Vermögensverwaltung in Köln.
Dieser Artikel erschien am 27.06.2022 unter folgendem Link.